Kinderarmut, Wohnungslosigkeit, geschlechtsspezifische Gewalt, rassistische Ausgrenzung, soziale Prekarität und die Klimakrise bedrohen die Sicherheit von Millionen - doch die politische Debatte richtet sich auf nationale Grenzen, Eigentum und Aufrüstung statt auf menschliche und soziale Sicherheit.
Mit diesem Dossier möchte das Gunda-Werner-Institut als feministischer Think Tank in der Heinrich-Böll-Stiftung in eine sicherheitspolitische Debatte intervenieren, die aus unserer Sicht dringend eine feministisch-intersektionale, menschenzentrierte und sozial gerechte Perspektive braucht. Denn was derzeit als „Sicherheitspolitik“ verhandelt wird, blendet zentrale Lebensrealitäten von Millionen Menschen in Deutschland aus – und verfehlt damit den Kern dessen, was Sicherheit eigentlich bedeuten muss. Wir knüpfen dabei an Debatten an, die in der Heinrich Böll Stiftung bereits geführt werden- sei es über den Zusammenhang von Freiheit und Sicherheit, die Bedeutung von Sicherheit im Zeitalter geopolitischer und planetarischer Krisen sowie die Frage, wie eine Politik, die menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, aussehen kann.
Warum dieses Dossier – und warum jetzt?
Der neue Koalitionsvertrag „Verantwortung für Deutschland“ vom April 2025 erhebt „Sicherheit“ zum Leitbegriff seiner politischen Grundausrichtung. Gleich 80 mal taucht der Begriff darin auf - zum Vergleich: „soziale Gerechtigkeit“ oder „Gerechtigkeit“ dagegen kein einziges Mal. Das zeigt eine sicherheitspolitische Verschiebung, die nicht nur konzeptionell eng geführt, sondern gesellschaftlich folgenreich ist.
Denn Deutschland steht tatsächlich vor großen sicherheitspolitischen Herausforderungen- zu dem Schluss könnte man mit Blick auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahre und Monate durchaus kommen. Diese treffen überproportional Kinder, FLINTA-Personen und marginalisierte und armutsbetroffene, kranke und behinderte Menschen, in Deutschland, aber auch weit über nationale Grenzen hinaus und im globalen Kontext gesehen:
• Über 1 Million Kinder leben laut UNICEF (2025) in Deutschland zur Zeit in Armut; viele ohne warme Mahlzeiten, winterfeste Kleidung oder geheizte Wohnungen - und damit ohne Absicherung ihrer grundlegendsten Sicherheitsbedürfnisse.
• 130.000 Kinder sind ebenfalls laut UNICEF in Deutschland wohnungslos und damit schutzlos einer unsicheren oft auch strukturell gewaltvollen Situation ausgesetzt.
• 328 Femizide wurden im Jahr 2024 verübt; 859 weitere „versuchte oder vollendete Tötungsdelikte“ an Frauen und Mädchen wurden registriert. Dabei werden Femizide an trans*Frauen in diesen Statistiken nicht mit erfasst.
• Häusliche Gewalt nimmt zu, Beratungsstellen sind chronisch unterfinanziert, Frauenhäuser müssen von Gewalt Betroffene abweisen, da sie keine Plätze haben.
• Queere Menschen und trans*-Personen erleben eine enorme Zunahme an Gewalt- physisch und auch durch die enorme Zunahme von Hasskriminalität im Netz. Es fehlt an allem: Solidarität, materieller Unterstützung- und einem effektiven und sensiblen Vorgehen der Behörden.
• Der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte wurde ausgesetzt – mit dramatischen Folgen für Familien, die in Trennung, Angst, Traumatisierung und ohne Sicherheit leben, wie es für sie in Deutschland weitergehen wird.
• Antifeministische Akteur*innen erleben in der Stärkung rechter und rechtsextremer Akteur*innen in Deutschland, Europa und global zunehmend Einfluss in Kommunen, Landesparlamenten und im Bundestag sowie anderen zentralen Institutionen.
• Die Debatte um die Abschaffung des Bürgergelds verschärft Armut und droht intersektional mehrfach diskriminierte Menschen bis in die Wohnungslosigkeit zu drängen.
• Im November 2025 endete die Weltklimakonferenz erneut ohne konkrete Fortschritte – obwohl die Klimakrise das größte sicherheitspolitische Risiko unserer Zeit bleibt.
Trotz dieser dramatischen Entwicklungen erleben wir keinen sicherheitspolitischen Aufschrei. Keine Krisengipfel zur Kinderarmut. Keine breite Debatte über Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Keine Stärkung der sozialen Infrastruktur, die Menschen tatsächlich schützt und unterstützen kann. Und keine Politik, die diese Themen als sicherheitspolitische Themen adressiert und angeht.
Wessen Sicherheit zählt – und wessen nicht?
Die derzeit dominierende Sicherheitspolitik ist selektiv. Sie schützt vor allem jene mit Eigentum, nationale Grenzen und die Dominanzgesellschaft und damit die bestehende Ordnung - nicht aber jene, die vor Armut, Gewalt, Rassismus, Antisemitismus oder Ausbeutung geschützt werden müssten. „Sicherheit“ wird so zu einem politischen Instrument, das Trennungslinien zieht: zwischen denen, die Schutz verdienen, und denen, die als Bedrohung markiert werden, wie es jüngst auch durch die sogenannte Stadtbild-Debatte schmerzhaft deutlich wurde.
Diese Funktion von Sicherheit, auch im Sinne einer „Politik der Verunsicherung“ als einer Politik der Spaltung ist leider nicht neu: in Zeiten Turbo-Kapitalismus, Krieg, Klimakrise und dem Abbau zentraler sozialer Infrastrukturen reagieren rechtspopulistische Kräfte weltweit, indem sie berechtige Ängste instrumentalisieren und vermeintliche Sündenböcke benennen – nämlich „Migrant*innen, Jüdinnen*Juden, Muslim*innen, queere Menschen, trans*-Personen, behinderte Menschen oder Menschen, die von Armut und Wohnungslosigkeit betroffen sind. So wird Unsicherheit politisch produziert, um dann mit neuen Sicherheitsversprechen Politik zu machen.
Dass diese Sicherheitsversprechen nur für manche gelten- und viele Menschen mehr weiter unsicher machen, ist Teil einer Logik, in der mit Sicherheit nicht nur Politik sondern auch Profit gemacht wird. Denn längst ist Sicherheit kein Versprechen mehr, das vom Staat und Politik ausgeht, sondern Sicherheit ist im Kapitalismus auch zu einer Ware geworden: Sicherheit kann erkauft, verkauft und gehandelt werden. Daher ist sie auch nur für diejenigen verfügbar, die sie sich leisten können.
Warum feministische Sicherheitspolitik notwendig ist
Feministische und intersektionale Bewegungen weisen seit Jahrzehnten darauf hin:
Sicherheit ist kein neutraler Zustand - sie ist eine Praxis, die strukturell auf Ausschlüssen und Grenzziehungen beruht und damit immer wieder Unsicherheit und Prekarität für eine Mehrheit an Menschen schafft. Versicherheitlichung nennt sich dabei der Vorgang, der immer wieder neue Themen zu Problemen von Sicherheit konstruiert- anstatt sich der zugrundeliegenden Probleme politisch ernsthaft und verantwortungsvoll anzunehmen.
Dabei müssen auch feministische Debatten selbst kritisch gegenüber Staat, Justiz und Institutionen bleiben, wenn der Ruf nach „mehr Sicherheit“ faktisch zu mehr struktureller Gewalt, Überwachung, Repression und Polizeigewalt gegenüber Menschen führt, die in Deutschland als Bedrohung konstruiert werden. Wenn Vulnerabilitäten gegeneinander ausgepielt werden und manche Körper und Leben als weniger schützenswert angesehen werden als andere, müssen feministische Forderungen darauf abzielen, jene Strukturen und Logiken zu kritisieren, die mit dieser Verunsicherung Politik machen. Und sich der Logik von „mehr Sicherheit“ durch die Frage entziehen, welche Form der Sicherheit eigentlich gemeint ist- und für wen.
Das Dossier:
Dieses stetig wachsende Online-Dossier vereint zahlreiche Beiträge und Interventionen von Menschen, die sich mit verschiedenen feministischen Perspektiven kritisch mit dem Sicherheitsbegriff auseinandersetzen. Das Dossier weist dabei zwei zentrale Denkrichtungen mit Bezug zu Sicherheit auf: Einerseits gibt es Beiträge, die versuchen, Sicherheit feministisch zu denken und den Sicherheitsbegriff um Sorge, Gleichberechtigung und soziale Infrastruktur zu erweitern. So zeigt z.B. Sophie Schwab vom Zukunftsforum Familie in ihrem Beitrag Fürsorge statt Festungen was es bedeuten könnte, Sicherheit als Form von Beziehung, als soziale Absicherung und Fürsorge zu denken. Das Interview mit Petra Weitzel ergänzt diesen Aspekt durch die Perspektive von trans*, inter und nicht-binären Betroffenen.
Während beide Texte betonen, dass die Gesetze jene nicht schützen, die Schutz von Gewalt suchen- sondern die Gewalt eher noch verstärken, pocht Paula Zimmermann von Amnesty International im Interview vor allem auf den Schutz und Verteidigung der wichtigen Grundrechte Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Sie betont die Notwendigkeit eines freiheitsrechtlichen Sicherheitsbegriffs, den sie durch autoritäre Praktiken von Staat und Polizei zunehmend in Gefahr sieht. Die extreme Rechte profitiert davon und ist in autoritären Praktiken bestens trainiert: Hannah Eitels Zukunftsblick plädiert fürs Bereitmachen: Wie die Zivilgesellschaft sich auf extrem rechte Regierungen vorbereiten kann. Auch Derya Binisiks Kommentar argumentiert in Warum eine wehrhafte Demokatie ein feministisches Fördersystem braucht für ein feministisches Sicherheitsverständnis im Sinne einer Absicherung: feministische Arbeit muss jenseits von staatlichen Förderlogiken abgesichert und ermöglicht werden- gerade in Zeiten, in denen autoritäre Akteur*innen staatliche Strukturen übernehmen- und durch massives Defunding progressive Politik und Gesellschaft einzuschränken und einzuschüchtern versuchen.
Simon Ilse zeigt in seinem Beitrag Menschliche Sicherheit – den Frieden gewinnen, Sicherheit neu denken wie inmitten der Logiken von globaler Aufrüstung und hybrider Kriegsführung eine, an menschlicher Sicherheit orientierte Friedens- und Sicherheitspolitik weiterhin wichtig bleibt- und nicht als Gegensatz zu sicherheitspolitischen Maßnahmen und Interventionen dargestellt werden sollte.
Andere Beiträge in diesem Dossier, kritisieren hingegen den Sicherheitsbegriff als Herrschaftsbegriff. Sie fordern, wie zum Beispiel Şeyda Kurt in ihrem Beitrag Töchter, Panzer, Sicherheit, über Solidarität, soziale Sicherheit und Selbstorganisation anstelle von mehr Polizei, mehr Waffen und Abschottung im Kontext von Sicherheit zu sprechen anstatt dominanten sicherheitspolitischen Debatten hinterherzulaufen. Auch der Beitrag von Anwältin Asha Hedayati Sicherheit beginnt vor dem Gesetz – als soziale Praxis, Fürsorge und politische Verantwortung wendet sich gegen ein Sicherheitsverständnis, das verkennt, wie der Staat Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt nicht nur alleine lässt- sondern jene Strukturen schafft und reproduziert, in denen diese Gewalt einen Nährboden findet.
Debatten um Sicherheit müssen geführt werden – nur anders
Wir wünschen uns, dass dieses Dossier mit seinen vielfältigen Beiträgen, Kommentaren und Positionierungen zum Sicherheitsbegriff einen Anlass bietet, über den Umgang mit gesellschaftlicher Verunsicherung und politischer Versicherheitlichung – und deren Zusammenspiel- ins Gespräch zu kommen. Wir hoffen, dass dieses Dossier dazu anregt,
• den Sicherheitsbegriff nicht rechten, konservativen und technokratischen Lesarten zu überlassen, sondern mit eigenen, intersektional-efeministischen Inhalten und Ansätzen zu füllen,
• gemeinsam eine Politik stark zu machen, die den Schutz, die Würde und das gute Leben von Menschen in den Mittelpunkt von politischen Forderungen stellt, statt Kontrolle, Ausschluss und Unsicherheit zu reproduzieren.
• Sicherheit vor allem als positiven Sicherheitsbegriff in den Blick zu nehmen: nicht nur die Sicherheit vor Risiken und vermeintlich „anderen“ Menschen in den Mittelpunkt von Politik zu stellen, sondern sie als Möglichkeitsraum zum gemeinsamen Handeln, zu Teilhabe und vor allem als: Sicherung der Würde aller Menschen im Sinne des Artikel 1 des Grundgesetzes zu verstehen.
Ein herzliches Danke an die Illustrator*innen Melanie Gandyra, Luisa Stömer und Eva Wünsch
Literatur:
Sicherheit: Rassismuskritische und feministische Beiträge von Mike Laufenberg, Vanessa E. Thompson (Hrsg.)
The Age of Insecurity: Coming Together as Things Fall Apart von Astra Taylor